Im Digital Economy and Society Index von 2020 belegt das Vereinigte Königreich den 8. Platz und ist damit im oberen Mittelfeld. Dabei ist das Vereinigte Königreich nicht unbedingt schlechter aufgestellt als andere Länder - viel eher sind andere Länder schneller in ihrer (digitalen) Entwicklung.
Inhalt:
Der Digital Economy and Society Index (DESI) ist ein jährlicher Bericht über den digitalen Status quo der EU-Länder. Aufgrund des Brexit stammt der vorliegende Bericht aus dem Jahr 2019/2020, weshalb die angegebenen Informationen mit Vorsicht zu genießen sind. Leider war es schwierig, aktuelle (und vor allem repräsentative) Gesamtzahlen außerhalb des DESI-Berichts zu finden, weshalb ich mich dennoch zur Verwendung entschieden habe.
Das Vereinigte Königreich hat eine unglaublich hohe Verbreitung von Festnetz-Breitbandanschlüssen (94% gegenüber 78% in der EU) sowie von mobilen Breitbandanschlüssen. Darüber war das Land zumindest 2020 bei der 5G-Bereitschaft leicht voraus und hat allein von 2019 bis 2020 große Fortschritte gemacht (0% auf 23%).
Das Vereinigte Königreich steht auch an fünfter Stelle, wenn es um die digitalen Fähigkeiten seiner Bevölkerung geht: 74% haben mindestens grundlegende und 49% mehr als grundlegende digitale Fähigkeiten. 89% nutzen elektronische Behördendienste, das sind fast 22% mehr als im EU-Durchschnitt.
Drei von vier Bürger:innen des Vereinigten Königreichs verfügen über grundlegende Softwarekenntnisse. Unter allen Beschäftigten sind 5,1% IKT-Spezialist:innen. Im Jahr 2018 lag auch die Zahl der weiblichen IKT-Spezialist:innen leicht über dem EU-Durchschnitt (1,8% gegenüber 1,4%), was generell eine gute Grundlage ist, um dem bestehenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Mehr als ein Drittel aller britischen Unternehmen nutzt soziale Medien und 30% nutzen cloudbasierte Technologien. Auch der Umsatz im elektronischen Handel liegt mit 13% (gegenüber 11%) leicht über dem EU-Durchschnitt. Darüber hinaus schneidet das Vereinigte Königreich bei den digitalen öffentlichen Dienstleistungen für Unternehmen deutlich besser ab als der EU-Durchschnitt.
Nach Angaben von Speedinvest beherbergt das Vereinigte Königreich mehr als 180 Start-ups aus dem Gesundheitsbereich und steht damit in Europa an erster Stelle, wenn es um das Gesamtinvestment in innovative Healthcare-Themen geht (3,5 Milliarden Euro Investitionen). Diese Start-ups decken ein breites Spektrum an verschiedenen Gesundheitsthemen ab, was generell ein gesundes innovatives Spielfeld impliziert, in dem unterschiedlichste Themen sowohl Investoren als auch Macher finden.
Ein weiterer starker Wirtschaftszweig ist der Finanzsektor des Vereinigten Königreichs, wobei London das zweitgrößte Finanzzentrum der Welt ist. Durch Brexit, die Pandemie und andere Entwicklungen auf den Märkten als auch beim Nutzer:innenverhalten wurden neue digitale Technologien (FinTech) hier massiv vorangetrieben.
Ein Bericht der University of Bath zitiert Studien, denen zufolge 88% der traditionellen Finanzunternehmen Sorge tragen, Umsätze an FinTechs zu verlieren. Gleichzeitig wird gemutmaßt, dass 82% aller Unternehmen, die aktuell noch nicht im FinTech-Sektor agieren, zukünftig mit FinTechs kollaborieren werden, um im Wettbewerb mitzuhalten.
Obwohl das Vereinigte Königreich einen hohen Anteil an Breitbandanschlüssen hat, hinkt es bei den schnellen Internetgeschwindigkeiten hinterher. Nur 19% aller Haushalte haben einen festen Breitbandanschluss mit 100 Mbit/s, und trotz der hohen Abdeckung mit schnellen Breitbandanschlüssen liegt die Abdeckung mit Netzen mit sehr hoher Kapazität nur bei 10% im Vergleich zu 44% in der EU.
Obwohl 2020 gut aufgestellt, wenn es um ICT-Fachkräfte geht, stellt sich die Frage, ob Brexit in den letzten zwei Jahren für einen sogenannten "Brain Drain" gesorgt hat, da viele Expats das Land verlassen mussten bzw. globale Unternehmen ihre Mitarbeitenden in Standorte migriert haben. Einem aktuellen Bericht des Vereinigten Königreichs zufolge, sucht knapp jedes zweite Unternehmen nach Mitarbeitenden, die digitale Skills mit sich bringen.
46% haben dabei seit zwei Jahren Probleme, die richtigen Fachkräfte anzuwerben. Dass durch Brexit auch die Bildungswege für internationale Fachkräfte komplexer geworden sind, ist hier nicht nur der aktuelle, sondern auch zukünftige Arbeitsmarkt betroffen. Tatsächlich gibt es schon Bemühungen der Regierung, auch kurzfristig Visa für ICT-Kräfte auszustellen.
Britische Unternehmen nutzen die Cloud und soziale Medien und verfügen über E-Commerce-Optionen, dennoch nutzt nur ein Viertel den elektronischen Informationsaustausch (24% gegenüber 34% in der EU). Da diese Zahlen jedoch aus dem Jahr 2019 stammen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Unternehmen ihre Einstellung zu dieser Technologie aufgrund der Pandemie geändert haben.
Für das Vereinigte Königreich ist nicht die allgemeine digitale Readiness das Problem. Wie in vielen anderen Ländern sind einige Branchen besser aufgestellt als andere. Reports zufolge sind digitale Nachzügler im Bereich Manufacturing und auch im Bildungswesen zu finden.
Vor allem Branchen, die von vornherein nicht digital innovativ bzw. keine globalen Marktführer waren, stehen jetzt vor noch größeren Herausforderungen, wenn es um die vielen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in Verbindung mit der Notwendigkeit geht, nicht nur Prozesse, sondern ganze Geschäftsmodelle zu digitalisieren.
Laut McKinsey stagniert beispielsweise die Produktivität im verarbeitenden Gewerbe im Allgemeinen seit 2010 mehr oder weniger, was auch auf einen Mangel an Produktivitätstechnologien und Innovationen hinweist. Aufgrund dieses Mangels sind die Arbeitskosten "höher als in jeder anderen großen Fertigungsnation".
McKinsey identifiziert eine ganzheitliche Strategie als eines der Haupthindernisse, da viele Hersteller zwar in Technologien wie das Internet der Dinge oder künstliche Intelligenz investieren, es aber versäumen, diese über den gesamten Betrieb und die Lieferkette hinweg zu nutzen.
Auch werden (interne) Skills und Fachwissen nicht ausreichend gestärkt und gefördert. So fehlen oft umfangreiche Angebote für Umschulungen und Weiterbildungen, um Mitarbeitenden die notwendigen digitalen Skills zu vermitteln und so dem Fachkräftemangel durch ein starkes internes Trainingsangebot zu trotzen.
Im Hochschulsektor scheinen die Institutionen nur das Nötigste zu tun, um den Status quo aufrechtzuerhalten, anstatt zu erkennen, dass die digitale Transformation auch dazu beitragen kann, die gesamte Bildungsreise sowohl für Studierende als auch für Lehrkräfte neu zu gestalten. Darüber hinaus berichtet eine IDC-Studie über Bildungseinrichtungen in der EU (PDF), dass britische Universitäten und Hochschulen einen drastischen Anstieg von Cyberangriffen zu verzeichnen haben. 80-90% von ihnen waren im Jahr 2020 von Sicherheitsverletzungen oder Phishing-Angriffen betroffen.
Das Vereinigte Königreich hat in den letzten Jahren eine Reihe höchst disruptiver Ereignisse erlebt. Sowohl der Brexit als auch die Pandemie dürften sich jedoch massiv positiv auf die digitale Transformation insgesamt ausgewirkt haben, da digitale Plattformen, Dienste und Geschäftsmodelle erforderlich sind, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Bürger:innen, Unternehmen und Organisationen zu ermöglichen, auf der globalen Bühne zu agieren.
Allerdings hat vor allem die politische Situation viele Teile der britischen Wirtschaft destabilisiert, und trotz der vielen Vorteile der Digitalisierung können die Unternehmen nur dann in eine Transformation investieren, wenn sie das Budget dafür haben. Die Zukunft des digitalen Potenzials des Landes liegt daher derzeit in der Luft:
Werden Unternehmen und Organisationen in die digitale Transformation investieren und so dazu beitragen, den globalen Einfluss des Vereinigten Königreichs aufrechtzuerhalten?
Oder werden die wirtschaftlichen Verwerfungen zu einem Mangel an Investitionen führen und die Entwicklung des Vereinigten Königreichs abwürgen?
Zumindest für einzelne Branchen (z.B. den sehr starken Finanzsektor) scheint es realistisch, dass sie sich für die erste Option entscheiden werden. Für bereits vor der Pandemie geschwächte Branchen kann es jedoch kritisch werden.
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